Eine Strasse, zwei Länder

19. Jun. 2024

Die Landesgrenze der Schweiz ist weniger starr, als man denkt. Ein Beispiel aus dem Kanton Schaffhausen zeigt, wie unsere Grenzen gepflegt, überwacht und manchmal auch verschoben wurden.

Die Landesgrenze der Schweiz ist weniger starr, als man denkt. Ein Beispiel aus dem Kanton Schaffhausen zeigt, wie unsere Grenzen gepflegt, überwacht und manchmal auch verschoben wurden.

Auf den ersten Blick wirkt die Schweizer Landesgrenze wie eine unverrückbare Linie. Seit dem Wiener Kongress im Jahr 1815 scheint sich an den Aussengrenzen der Eidgenossenschaft nichts mehr geändert zu haben. Bei genauerem Hinschauen werden aber an zahlreichen Stellen kleinere Bewegungen sichtbar.

Im 21. Jahrhundert sorgt vor allem die Umwelt für Gesprächsbedarf zwischen der Schweiz und ihren fünf Nachbarländern: Flüsse und Bäche, aber auch die Wasserscheide in den Alpen – also die natürlichen Grenzen – sind nicht statisch. Erdrutsche, Klimawandel und andere Einflüsse können ihren Verlauf ändern. Das war früher kaum anders, aber dank hochpräziser Messtechniken werden solche Veränderungen heute viel früher festgestellt und der Grenzverlauf angepasst. Dass in erster Linie die Natur die Landesgrenze in Bewegung bringt, war aber nicht immer so. Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts waren vor allem die Bedürfnisse des Militärs und der Zollorgane dafür verantwortlich, dass es zu sogenannten Grenzbereinigungen kam.

Nicht nur beim Schlauch hatte man mit dem Verlauf der Landesgrenze zu kämpfen. Im Ersten Weltkrieg patrouillierte und bewachte die Schweizer Armee die akut invasionsgefährdeten Grenzabschnitte in besonderem Mass. Diese sogenannte Grenzbesetzung wirkte wie ein Kontrastmittel für die Landesgrenze und machte an vielen Orten Schwierigkeiten und Unsicherheiten sichtbar. Im Auftrag des Generalstabs fertigte die Eidgenössische Landestopografie im Januar 1919 eine Liste von 121 Orten an, wo sich der Grenzverlauf während des Ersten Weltkriegs als nicht ausreichend definiert, strittig oder aus Schweizer Sicht ungünstig herausgestellt hatte – auch der Schlauch firmierte auf dieser Liste.

Ein erster Versuch, die Kantonsstrasse vollständig auf schweizerisches Territorium zu holen, wurde zwischen 1928 und 1931 unternommen. Auf dem Weg zu diesem Ziel gab es aber einen Stolperstein: Die Grenze beim Schlauch war eine sogenannte feste Grenze. Sie war also nicht durch ein natürliches Landschaftselement wie einen Fluss oder die Wasserscheide definiert, sondern von Menschenhand gezeichnet. Will ein Staat eine feste Grenze verschieben, muss er den Nachbarstaat 1:1 mit eigenem Territorium kompensieren.  Im Fall des Schlauchs scheiterte eine solche Einigung 1931 an Ansprüchen der deutschen Seite, aber auch am Widerstand mehrerer Schweizer Gemeinden, die kein Land an den Nachbarstaat abgeben wollten. Als während des Zweiten Weltkriegs die Grenze erneut besetzt werden musste, erlebte die Grenzwache deshalb ein Déjà-Vu, wie ein Bericht aus dem Jahr 1951 zeigt:

Zum Militärdienst aufgebotene Schweizer mussten nach Schliessung der Strasse [beim Schlauch], Verschwörern gleich, über unwegsame Waldpfade von einem schweizerischen Dorf zum andern marschieren. Radfahrer hatten dabei ihr Velo mitsamt Tornister und Waffe über wilde Tobel und durch dichtes Unterholz zu schleppen.

Die Grenzbereinigung von 1967

Eine Lösung ermöglichte schliesslich der Nationalstrassenbau, der 1960 auf den Weg gebracht wurde. Er sah vor, Bargen und Merishausen durch die Nationalstrasse 4 zu verbinden, die westlich der alten Kantonsstrasse verlaufen sollte. Damit die N4 vollständig auf Schweizer Boden zu liegen kam, war zwar weiterhin ein Gebietsaustausch mit der Bundesrepublik Deutschland nötig. Um das zu erreichen, mussten aber nur noch gut 5 statt der einst diskutierten 23 Hektaren Land an die Schweiz gehen. Ein weiterer Vorteil dieser Lösung war, dass der 800 Meter lange Abschnitt der alten Kantonsstrasse bei den deutschen Nachbarn verbleiben konnte. Wie so oft bei solchen Grenzbereinigungen, erfolgte der Tausch im Rahmen eines grösseren Pakets: Der 1967 abgeschlossene Staatsvertrag zwischen der Schweiz und Deutschland sah je 8 Gebietsabtretungen von schweizerischer und deutscher Seite vor, mit denen die Grenze für beide Seiten vorteilhafter gestaltet werden sollte.

Im August 1968 trugen Deutschland und die Schweiz dem gemeinsamen Abkommen Rechnung, indem sie die über 100 Jahre alten Grenzsteine beim Schlauch anpassten. Eine Equipe von je drei deutschen und schweizerischen Arbeitern reiste mit Kranwagen, Pickeln und Schaufeln an: Ein Stein wurde verschoben, 11 neue gesetzt und 6 Steine, die den alten Grenzverlauf markiert hatten, wurden ausgegraben und für ungültig erklärt. Die angepasste Grenze hatte sich damit vor Ort materialisiert.

Mit dem Gebietsaustausch von 1967 rückte die Landesgrenze beim Schlauch gen Osten, sodass die Nationalstrasse gänzlich über Schweizer Gebiet verlaufen konnte. Unmittelbar südlich des Schlauchs verschob sich die Grenze leicht nach Westen (swisstopo Kartensammlung, LK 1011, 1956 und 1971)

Eine lebendige Linie

Wie das Beispiel aus dem Kanton Schaffhausen zeigt, war und ist die Landesgrenze immer wieder aufs Neue aushandlungsbedürftig. Seien es Erdrutsche, die Flussläufe verändern, der Klimawandel, der die Wasserscheide in den Bergen verschiebt, Infrastrukturprojekte im Grenzbereich oder sicherheitspolitische Überlegungen: Die Gründe für Grenzänderungen sind mannigfaltig. Aber auch dort, wo sich nichts am Grenzverlauf ändert, ist für viel Arbeit gesorgt. Heute befinden sich an der 1935 km langen Aussengrenze der Schweiz über 7000 Marksteine. Unter der Leitung von swisstopo werden sie regelmässig inspiziert, unterhalten und instandgesetzt. Trotz der inzwischen digitalen Erfassung des Grenzverlaufs kann nur auf diese Weise gewährleistet werden, dass die Landesgrenze auch vor Ort gut erkennbar ist.

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