Die grosse Abstraktion

04. Mai. 2021

Der Topograph Perrin am Messtisch und ein namentlich nicht bekannter Gehilfe mit der Messlatte, um 1905. Technische Aufnahme 4879, Inv. 000-398-381.

Mit dem Messtischverfahren überführten Topografen eine Landschaft in eine abstrakte Zeichnung. Diese sollte das Gelände mit seinen natürlichen und künstlichen Objekten möglichst präzise wiedergeben. Ein Instrument verhalf dabei zur erforderten Genauigkeit: die Kippregel.

Raus in die Natur! Mit Dreibein, Papier, Zeichenbrett und -stiften, vielleicht einem Sonnenschirm… Nein, hier zieht kein Kunstmaler oder eine Kunstmalerin für ein Landschaftsgemälde los, hier macht sich ein Topograf (ja, das waren lange Zeit nur Männer) um 1900 für die Feldarbeit bereit. Er nahm keine Staffelei, sondern ein Stativ für seinen Messtisch (das Zeichenbrett) mit. Dazu ein Präzisionsinstrument, die Kippregel, und eine Messlatte. Gleich wie ein Kunstmaler hatte er das Ziel, einen gewissen Abschnitt der Landschaft von einem bestimmten Standort aus auf Papier zu bringen.

Historische Messtische bei swisstopo

Das Messtischverfahren ist in den historischen Sammlungen von swisstopo gut dokumentiert. 16 Kippregeln aus über 120 Jahren, nämlich von 1835 bis 1960, und von Produzenten wie Kern (Aarau), Wild (Heerbrugg), Noblet (Genf) oder Hildebrand (Freiberg) finden sich im Inventar. Darunter sind auch Geräte, die mit bekannten Topografen und Kampagnen in Verbindung stehen. Bis heute erhalten sind Instrumente, die von Joseph Anton Buchwalder, Xaver Imfeld oder Oberst Hermann Siegfried selber eingesetzt wurden. Die Kippregeln Buchwalders und Siegfrieds wurden aus deren privaten Nachlässen erst anfangs 20. Jahrhundert in die Sammlung aufgenommen. Zu den Instrumenten gehören auch einige Messtische mit Stativen. Insgesamt stellen die erhaltenen Objekte des Messtischverfahrens nur einen kleinen Teil des historischen Betriebsetats dar. In dessen Inventar sind anfangs des 20. Jahrhunderts zwar keine Kippregeln verzeichnet, sondern nur «Messtische». Glücklicherweise ist aber auch deren finanzieller Wert vermerkt. 1915 hatten 35 «Messtische» den Wert von 26'406 Franken. So wertvoll kann Holz nicht sein! Offenbar wurde im Inventar der «Sektion Topographie» immer die komplette Messtischausrüstung mit Präzisionsinstrument als «Messtisch» eingetragen. Von 1915 bis 1932 hatte sich deren Anzahl mit 64 fast verdoppelt.

Das Messtischverfahren war bis weit ins 20. Jahrhundert hinein zentral für die topografische Detailvermessung der Schweiz. Auch die für die Landeskarten erstellten fotogrammetrischen Grundlagen mussten im Feld mittels Kippregel auf dem Messtisch noch ergänzt werden. Davon zeugen die Kippregeln mit Baujahr 1960 in der Sammlung. Die im Messtischverfahren erstellten Originalaufnahmen sind wegen ihrem hohen Detaillierungsgrad ergiebige historische Quellen.

Der Unterschied in der Abstraktion

Zum Schluss noch einmal zurück zur Abstraktion. Im Gegensatz zu Künstlern erstellten Topografen eine standardisierte, technische Abstraktion der Landschaft. Um dies zu erreichen, wurden im Vorfeld topografischer Aufnahmen klare Instruktionen erteilt. In den Instruktionen Guillaume Henri Dufours zur Topographischen Karte der Schweiz ist unter anderem definiert, welche Objekte darzustellen sind und wie unterschiedliche Wege und Strassen, das Kulturland oder Gewässer gezeichnet werden sollen. Damit wurden die gezeichneten Aufnahmen eindeutig lesbar. Darin liegt der Grund, dass wir Karten mit einer jahrzehntealten Formensprache meist intuitiv und ohne Legende verstehen. Abstrakte Kunst hingegen überlässt meist dem einzelnen Betrachter die Interpretation. Entsprechend unterschiedlich wirken abstrakte Kunstwerke auf uns. Der Künstler Paul Klee erstellte 1920 einen «topographischen Plan», um die Natur zu erfassen:

«Entwickeln wir, machen wir unter An­legung eines topographischen Planes eine kleine Reise ins Land der besseren Erkennt­nis. Über den toten Punkt hinweggesetzt sei die erste bewegliche Tat (Linie). Nach kurzer Zeit Halt, Atem zu holen. (Unterbrochene oder bei mehrmaligem Halt gegliederte Linie.) Rückblick, wie weit wir schon sind. (Gegen­bewegung). Im Geiste den Weg dahin und dorthin erwägen (Linienbündel). Ein Fluß will hindern, wir bedienen uns eines Bootes (Wellenbewegung). Weiter oben wäre eine Brücke gewesen (Bogenreihe). […]»  


Wie Dufour scheint Klee hier «Instruktionen» zu geben, mit welchen Elementen die Welt in abstrahierter, auf das Wesentliche reduzierter Form darzustellen ist. Im Gegensatz zu den Topografen nutzte Klee die gewählten Abstraktionselemente aber nicht lediglich dazu, um etwas Konkretes darstellen zu können. Die Elemente oder Formen sollten immer noch für sich selber stehen können:  

«Die Elemente sollen Formen ergeben, nur ohne sich dabei zu opfern. Sich selber bewahrend.»

Die entstandenen Originalaufnahmen sind dagegen zeichnerische Abstraktionen ohne künstlerischen Anspruch. Topografen haben aber im Messtischverfahren eine eigenständige und allgemein verständliche abstrakte Formensprache entwickelt. Die Kippregel diente dabei der massstabsgetreuen Abstraktion der Welt.                

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Die grosse Abstraktion: nach Wassily Kandinsky, «Die Formfrage» in: Der Blaue Reiter, 1912.  

Zitate Klees aus: Paul Klee, Schöpferische Konfession, in: Tribüne der Kunst und Zeit XIII, hrsg. v. Kasimir Edschmid, Berlin 1920, S. 28-40

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