Der Topograph Perrin am Messtisch und ein namentlich nicht bekannter Gehilfe mit der Messlatte, um 1905. Technische Aufnahme 4879, Inv. 000-398-381.
Mit dem Messtischverfahren überführten Topografen eine Landschaft in eine abstrakte Zeichnung. Diese sollte das Gelände mit seinen natürlichen und künstlichen Objekten möglichst präzise wiedergeben. Ein Instrument verhalf dabei zur erforderten Genauigkeit: die Kippregel.
Raus in die Natur! Mit Dreibein, Papier, Zeichenbrett und -stiften, vielleicht einem Sonnenschirm… Nein, hier zieht kein Kunstmaler oder eine Kunstmalerin für ein Landschaftsgemälde los, hier macht sich ein Topograf (ja, das waren lange Zeit nur Männer) um 1900 für die Feldarbeit bereit. Er nahm keine Staffelei, sondern ein Stativ für seinen Messtisch (das Zeichenbrett) mit. Dazu ein Präzisionsinstrument, die Kippregel, und eine Messlatte. Gleich wie ein Kunstmaler hatte er das Ziel, einen gewissen Abschnitt der Landschaft von einem bestimmten Standort aus auf Papier zu bringen.
Bevor sich die Topografen an die Arbeit machten, hatten Geodäten mittels Theodolit das Land bereits mit einem Netz von Messpunkten überzogen. Damit bestand die Grundlage für die topografische Detailvermessung der Landschaft, die jeweils von diesen Messpunkten ausging. Mit mindestens einem Gehilfen an einem Messpunkt angekommen, stellten sie ihr Stativ auf, befestigten den Messtisch darauf und zogen das noch weisse Messtischblatt auf. Anschliessend entnahmen sie das eigentliche Abstraktionsgerät – die Kippregel – aus einer Kiste und montierten es auf dem Messblatt. Im Gegensatz zum Kunstmaler musste der Topograf mit der Abstraktion auch einen Perspektivenwechsel vollziehen: Während der Kunstmaler die Landschaft als Panorama darstellte, übertrug der Topograf das horizontale Panorama in eine vertikale Aufsicht.
Die Kippregel der Firma Kern von 1835 gehört zu den ältesten Kippregeln in der Sammlung von swisstopo (Inv. Nr. 3021). Sie stammt aus dem Nachlass des an der Dufourkarte beteiligten Ingenieurs Antoine-Joseph Buchwalder. Zur Kippregel gehören ein Transversalmassstab sowie eine Bussole und eine Dosenlibelle zur Positionierung und Einstellung des Messtisches. (Foto: Patric Schenkel)
Kippregeln erlaubten es, die Polarkoordinaten zu erfassen und auf das Messtischblatt zu übertragen. Dazu zog der Gehilfe mit einer Messlatte zum zu kartierenden Punkt los. Nun stellte der Topograf seine Kippregel auf die Messlatte des Gehilfen ein. Im Fernrohr stellte er einen beweglichen und einen fixen Faden so auf die Messlatte ein, dass er die Distanz bestimmen konnte: je weiter der Gehilfe vom Messtisch entfernt war, desto grösser war der Abschnitt der Messlatte, der dem Topografen zwischen den beiden Fäden erschien. Gleichzeitig übertrug er mittels Lineal am Fuss der Kippregel die Richtung direkt auf den Messtisch. Dazu benötigte er einen Transversalmassstab, der ihm die Verhältnisse von der Realität zu seinem Messtischblatt (häufig 1 zu 25'000) direkt anzeigte. Bei einigen Kippregeln in der Sammlung von swisstopo sind diese praktischerweise auf dem Lineal der Kippregel eingelassen.
Am Vertikalkreis konnte der Topograf nun den Neigungswinkel zum Objekt ablesen. Damit hatte er die nötigen Angaben, um vom Messpunkt aus auch die Höhe des anvisierten Objekts zu berechnen. Alternativ konnte ein Objekt auch über das «Einschneiden» - dem Anvisieren von zwei bekannten Punkten aus – positioniert werden. Objekt für Objekt wurde so mithilfe der Kippregel und trigonometrischer Rechnung auf das Messtischblatt übertragen. Die «Originalaufnahme» war entstanden - der Topograf hatte damit eine Landschaft und ihre Objekte in einen abstrakten Plan übertragen.
Das Messtischverfahren ist in den historischen Sammlungen von swisstopo gut dokumentiert. 16 Kippregeln aus über 120 Jahren, nämlich von 1835 bis 1960, und von Produzenten wie Kern (Aarau), Wild (Heerbrugg), Noblet (Genf) oder Hildebrand (Freiberg) finden sich im Inventar. Darunter sind auch Geräte, die mit bekannten Topografen und Kampagnen in Verbindung stehen. Bis heute erhalten sind Instrumente, die von Joseph Anton Buchwalder, Xaver Imfeld oder Oberst Hermann Siegfried selber eingesetzt wurden. Die Kippregeln Buchwalders und Siegfrieds wurden aus deren privaten Nachlässen erst anfangs 20. Jahrhundert in die Sammlung aufgenommen. Zu den Instrumenten gehören auch einige Messtische mit Stativen. Insgesamt stellen die erhaltenen Objekte des Messtischverfahrens nur einen kleinen Teil des historischen Betriebsetats dar. In dessen Inventar sind anfangs des 20. Jahrhunderts zwar keine Kippregeln verzeichnet, sondern nur «Messtische». Glücklicherweise ist aber auch deren finanzieller Wert vermerkt. 1915 hatten 35 «Messtische» den Wert von 26'406 Franken. So wertvoll kann Holz nicht sein! Offenbar wurde im Inventar der «Sektion Topographie» immer die komplette Messtischausrüstung mit Präzisionsinstrument als «Messtisch» eingetragen. Von 1915 bis 1932 hatte sich deren Anzahl mit 64 fast verdoppelt.
Das Messtischverfahren war bis weit ins 20. Jahrhundert hinein zentral für die topografische Detailvermessung der Schweiz. Auch die für die Landeskarten erstellten fotogrammetrischen Grundlagen mussten im Feld mittels Kippregel auf dem Messtisch noch ergänzt werden. Davon zeugen die Kippregeln mit Baujahr 1960 in der Sammlung. Die im Messtischverfahren erstellten Originalaufnahmen sind wegen ihrem hohen Detaillierungsgrad ergiebige historische Quellen.
Zum Schluss noch einmal zurück zur Abstraktion. Im Gegensatz zu Künstlern erstellten Topografen eine standardisierte, technische Abstraktion der Landschaft. Um dies zu erreichen, wurden im Vorfeld topografischer Aufnahmen klare Instruktionen erteilt. In den Instruktionen Guillaume Henri Dufours zur Topographischen Karte der Schweiz ist unter anderem definiert, welche Objekte darzustellen sind und wie unterschiedliche Wege und Strassen, das Kulturland oder Gewässer gezeichnet werden sollen. Damit wurden die gezeichneten Aufnahmen eindeutig lesbar. Darin liegt der Grund, dass wir Karten mit einer jahrzehntealten Formensprache meist intuitiv und ohne Legende verstehen. Abstrakte Kunst hingegen überlässt meist dem einzelnen Betrachter die Interpretation. Entsprechend unterschiedlich wirken abstrakte Kunstwerke auf uns. Der Künstler Paul Klee erstellte 1920 einen «topographischen Plan», um die Natur zu erfassen:
«Entwickeln wir, machen wir unter Anlegung eines topographischen Planes eine kleine Reise ins Land der besseren Erkenntnis. Über den toten Punkt hinweggesetzt sei die erste bewegliche Tat (Linie). Nach kurzer Zeit Halt, Atem zu holen. (Unterbrochene oder bei mehrmaligem Halt gegliederte Linie.) Rückblick, wie weit wir schon sind. (Gegenbewegung). Im Geiste den Weg dahin und dorthin erwägen (Linienbündel). Ein Fluß will hindern, wir bedienen uns eines Bootes (Wellenbewegung). Weiter oben wäre eine Brücke gewesen (Bogenreihe). […]»
Wie Dufour scheint Klee hier «Instruktionen»
zu geben, mit welchen Elementen die Welt in abstrahierter, auf das Wesentliche
reduzierter Form darzustellen ist. Im Gegensatz zu den Topografen nutzte Klee
die gewählten Abstraktionselemente aber nicht lediglich dazu, um etwas
Konkretes darstellen zu können. Die Elemente oder Formen sollten immer noch für
sich selber stehen können:
«Die Elemente sollen Formen ergeben, nur ohne sich dabei zu opfern. Sich selber bewahrend.»
Die entstandenen Originalaufnahmen sind dagegen zeichnerische Abstraktionen ohne künstlerischen Anspruch. Topografen haben aber im Messtischverfahren eine eigenständige und allgemein verständliche abstrakte Formensprache entwickelt. Die Kippregel diente dabei der massstabsgetreuen Abstraktion der Welt.
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Die grosse Abstraktion: nach Wassily Kandinsky, «Die Formfrage» in: Der Blaue Reiter, 1912.
Zitate Klees aus: Paul Klee, Schöpferische Konfession, in: Tribüne der Kunst und Zeit XIII, hrsg. v. Kasimir Edschmid, Berlin 1920, S. 28-40