Im Jahr 1915 stellten Geodäten der Landestopografie fest, dass sich ein eigentlich fest im Fels der Walliser Rosablanche verankerter Triangulationspunkt um mehrere Meter bewegt hatte. Eine intensive Ursachensuche begann. Unzählige Berggänge, Winkelmessungen und Nachforschungen später konnte das Rätsel gelüftet werden.
Die bewegte Geschichte der Rosablanche (heute 3336 m ü. M.) begann im Jahr 1888. Damals erhob der Geodät Max Rosenmund den Gipfel zum Standort eines Fixpunkts der Landestriangulation. Als Fixpunkt 1. Ordnung wurde der Gipfel zu einem der wichtigsten Knotenpunkte des Walliser Netzes. Die Rosablanche eignete sich für diese prominente Rolle, weil von dort aus neben den Dents du Midi, dem Oldenhorn, dem Altels und dem Schwarzhorn auch die Dufourspitze gut sichtbar war. Zudem war der Berg vergleichsweise leicht zu besteigen – ein idealer Ort für einen wichtigen Triangulationspunkt, so schien es.
Es dauerte gut ein Vierteljahrhundert, bis der Triangulationspunkt zu einem «rechten Sorgenkind» wurde, wie es der Geodät Johann Ganz 1916 ausdrückte. Zwar hatten die Ingenieure der Landestopografie zwischen 1895 und 1913 wiederholt festgestellt, dass das über dem Fixpunkt aufgestellte Signal schief stand. Den Steinmann, in den das Stangensignal eingelassen war, trafen Vermessungsequipen 1905 und 1913 jeweils weitgehend zerstört an. Die Geodäten behoben diese Schäden beide Male und versicherten den Fixpunkt neu. Ein «Sorgenkind» war die Rosablanche in den Augen der Ingenieure zu diesem Zeitpunkt noch nicht: Stürmische Winde, Blitzeinschlag und Vandalismus hatten auch bei vielen anderen Triangulationspunkten ähnliche Schäden verursacht.
Erst die Auswertung neuerlicher Winkelmessungen vom September 1914 zeigte, dass die Vorkommnisse auf der Rosablanche ungewöhnlich waren. Laut Hans Zölly (1880–1950), Chefgeodät der Landestopografie, stellten sich bei den Rechenarbeiten «unliebsame Überraschungen ein»: Alle Dreiecksberechnungen, die mit der Rosablanche zu tun hatten, gingen nicht auf. Zunächst wurden Mess- und Rechenfehler als Ursache vermutet, doch alle zur Kontrolle angestellten Doppelrechnungen bestätigten Zöllys Beobachtung: Der Triangulationspunkt auf der Rosablanche hatte sich zwischen 1895 und 1914 um zirka 3.5 Meter bewegt. Der Chefgeodät zog ein dramatisches Fazit: «Wir standen […] vor der Tatsache, dass einer unserer wichtigsten trigonometrischen Fixpunkte kein Fixpunkt war.»
In der Folge setzte die Landestopografie alles daran, mitzuverfolgen, ob und wie der Fixpunkt weiterwanderte. Zwischen 1915 bis 1921 erklommen fast jeden Sommer Ingenieure mit ihren Messgehilfen die Rosablanche. Sie konnten der Bewegung des Gipfels buchstäblich zuschauen:
Über Mittag, während der wärmsten Stunden, ist dort alles in Bewegung; von links und rechts fallen die Blöcke in die Rinne oder nehmen von dort ihren Weg in südlicher Richtung auf den Gletscher hinunter. Man hat den Eindruck, dass der Untergrund des Signals nicht mehr lange widerstandsfähig sein könne, sondern dem Gesetz der Schwere folgen und in die Tiefe fahren müsse.
Berechnungen aus dem Jahr 1921 zeigten schliesslich, dass der von Max Rosenmund eingerichtete Fixpunkt seit 1891 um gut 21 Meter abgesunken war. Seit 1913 hatte sich der Gipfel jedes Jahr um 1-1.5 Meter horizontal und 1.5-2.5 Meter in die Tiefe bewegt.
Die Geodäten der Landestopografie reagierten auf das akute Vermessungsproblem, indem sie 1916 und 1921 neue Fixpunkte auf der Rosablanche installierten – im Lauf von 30 Jahren gab es auf dem Gipfel also insgesamt drei unterschiedliche Fixpunkte. Der einst klar vom Rest des Bergs abgehobene Kulminationspunkt der Rosablanche war so stark eingesunken, dass er immer mehr zum Teil des Berggrats geworden war. Doch warum bewegte sich dieser Berg überhaupt so dramatisch?
Zunächst vermuteten die Geodäten der Landestopografie, dass die Rosablanche in Bewegung geraten war, weil sich im Wallis damals zahlreiche Erdbeben ereignet hatten. Weil aber kein anderer Triangulationspunkt der Region eine ähnliche Wanderung hingelegt hatte, erschien diese Vermutung bald unplausibel. Auch poröses Gestein oder tektonische Verschiebungen konnten als Ursachen ausgeschlossen werden. Die Ingenieure tappten jahrelang im Dunkeln, bis sie 1920 oder 1921 auf den Neuenburger Geologieprofessor Émile Argand (1879–1940) aufmerksam wurden. Argand war ein Kenner der Penninischen Alpen, zu denen auch die Rosablanche gehörte. Bereits 1916 hatte Argand den Berg besucht und eingehend studiert. Ohne voneinander zu wissen, hatten Geodäten und Geologen die Rosablanche mit Argusaugen beobachtet.
Émile Argand kam bereits 1916 zum Schluss: Des Rätsels Lösung lag im Glacier de Prafleuri, der sich direkt unter dem Gipfel befand. Der Gletscher hatte während Jahrtausenden «sein Felsenbett angeschürft» und die Gipfelpartie «angekratzt, benagt, untertieft» – der Gipfel der Rosablanche war vom Gletscher unterhöhlt und wurde zugleich von den festen Eismassen gestützt. Als der Glacier de Prafleuri im frühen 20. Jahrhundert verstärkt zu schmelzen begann, hatte dies sichtbare Folgen. Im Jahr 1921 umschrieb der Topograf Hans Dübi die Kernerkenntnis Argands folgendermassen:
So entstand, als der Gletscher zurückging, ein 'défaut de stabilité'; die Felsmassen, welche kein Fundament mehr hatten, […] rutschten zur Tiefe.
Dank der Erkenntnisse des Neuenburger Geologen war das Rätsel der Rosablanche gelöst. Die Zukunft des inzwischen dritten, 1921 installierten Triangulationspunktes war jedoch ungewiss. Als das Schweizer Triangulationsnetz in den 1950er Jahren in das europäische Verbundnetz integriert wurde, verzichtete die Landestopografie auf den in Verruf geratenen Fixpunkt: Er wurde durch den «zentral gelegenen, prächtigen Gipfelpunkt» La Ruinette ersetzt.
Die Unzuverlässigkeit des einstigen Triangulationspunkts war aber nicht nur der Grund für seinen Niedergang im wörtlichen und übertragenen Sinne. Die Gipfelbewegung machte die Rosablanche auch zu einem VIP unter den Schweizer Bergen. Hans Dübi beschrieb diese Ironie im Jahr 1921 mit schwungvollen Zeilen:
Früher ein Signalgipfel wie viele hundert andere auch, […] die ebenso leicht als uninteressant waren, brachte dich nichts [...] nichts aus deiner Mittelmässigkeit. Und heute, o Rosablanche! […] Jahrbücher erzählen von deinem Schicksal, ja, welch ein Schicksal, erst nachdem du um dein hohes Haupt gekürzt worden bist, kamst du zu dieser zweifelhaften Berühmtheit!